Seit einigen Jahren sind die Begriffe „fake news“ und „alternative Fakten“ bekannt und deren Möglichkeiten gefürchtet. Sie haben Ratlosigkeit hinterlassen. Scheinbar unberührt davon hat uns die Bewegung „Fridays for Future“ gezeigt, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Wissen frei verfügbar ist. Die Mitglieder der Bewegung haben Wissen selbstständig erworben und sie haben gelernt, wie man Wissen anwendet. Sie sind dabei, die Bevormundung durch clandestines Expertenwissen zu überwinden, mitsamt dessen schwarzer Seite: der Benutzung von „Wissen“ und von „Wissenschaft“ zur gezielten und interessengetriebenen Desinformation. Darüber muss geredet werden. Wir meinen hier nicht diktatorische Regierungen, die ihren Bürgern den Zugang zum Internet versperren. Wir reden nur über Politiker und Interessenvertreter der Industrie, die das Rechtssystem ausnutzen und mit der freien Meinungsäusserung auch den Zugang zur Information unterbinden.
von Walter Hölzel
Selber Experten sein
Der französische Philosoph Michel Serres hat 2011 darauf hingewiesen, dass wegen der freien Verfügbarkeit des Wissens via Internet ein tiefgreifender Wandel bevorsteht, der alle Bereiche des Wissens, des Lehrens und des Lebens ergreifen wird (1). Schon einmal sei ein „Expertentyp“ überflüssig geworden, nämlich der Gelehrte, welcher, um Philosophie oder Mechanik betreiben zu können, seinen Aristoteles auswendig kennen musste: zu weit verstreut waren die Standorte der handgeschriebenen Bücher, der Zugang zu ihnen wurde häufig verwehrt. Und er musste arabisch lesen können, denn die Klassiker der europäischen Kultur waren in Europa weitgehend vernichtet. Bewahrt von der arabischen Kultur, ergänzt mit dem mathematischen und astronomischen Wissen des Orients, weiterentwickelt von arabischen Ärzten, Geographen und Philosophen, stand dieses Wissen nach dem Sieg über das Kalifat von Cordoba auch Europa offen. Der Buchdruck hat es zugänglich gemacht. Ein neuer Expertentyp wurde gebraucht: nicht das Auswendiglernen, sondern das Verarbeiten des Wissens war gefragt und der Entwicklungsschub in der Renaissance zeigt eindrücklich, wieviel neues Wissen damit entstehen konnte. Aber auch das Angebot des in der Renaissance entstandenen Experten sieht Serres inzwischen ohne Nachfrage:
„Weil alle Welt das Wissen, das da verbreitet wird, bereits hat. In Gänze. Zur freien Verfügung. Zur Hand. Jederzeit zugänglich im Netz, bei Wikipedia, mit dem Handy, durch jedes beliebige Portal. Erläutert, dokumentiert und illustriert, mit ebenso wenigen oder ebenso vielen Irrtümern wie in den besten Enzyklopädien auch.“ (…) „Das Abgebot ohne Nachfrage ist unlängst gestorben. Das ungeheure Angebot, das darauf folgt und es ersetzt, beugt sich der Nachfrage. Das gilt von der Schule, und ich behaupte: Es wird auch von der Politik gelten. Ende des Expertenzeitalters?“(2)
Was Serres aus seiner Erfahrung als Hochschullehrer vorausgesehen hatte, zeigte sich verdatterten deutschen Politikern bei den Demonstrationen der Fridays for Future-Bewegung. Da laufen Kinder durch die Straßen und schwänzen die Schule! Eintragung ins Klassenbuch! Wieso ist das Thema „auf einmal“ so interessant?
Ein besonders reaktionsschneller Pollitiker – selbst noch eher jugendlich wirkend – rief den „Kindern“ zu, sie sollten das Thema doch bitte den „Experten“ überlassen. Er hätte besser geschwiegen, zu skurril war die Diskrepanz zwischen jugendlichem Aussehen, Wortschnelligkeit und altväterlicher Ignoranz.
Wie sehr die Mitglieder der Fridays for Future-Bewegung inzwischen selbst zu Experten geworden sind, zeigte sich, als Wissenschaftler der „Science for Future“ für sie eine Vorlesungsreihe zum Klimaschutz angeboten haben – natürlich Freitags, nach den Demonstrationen. „Fridays im Hörsaal – Wissenschaftler*innen haben eine Klimavorlesungsreihe speziell für Jugendliche konzipiert. Die Zuhörer*innen sind oft bestens informiert.“ schrieb die TAZ. (3)
Den Zugang zum Wissen erschweren
Das Faktum, das Wissen nicht mehr wohlverschlossen in Expertenköpfen ruht, sondern frei verfügbar ist und Wirkung entfalten kann, löst gelegentlich Irritationen aus. Bekanntlich hat vor der letzten Europawahl ein blauhaariger Influencer – im Netz und kostenfrei – erklärt, warum eine bestimmte Volkpartei bei der anstehenden Wahl Einbußen hinnehmen wird. Nach der Wahl und offenbar bevor die Verluste geistig verarbeitet waren, ist der Vorsitzenden der genannten Volkspartei nur eingefallen, mit einer politischen Diskussion darüber zu drohen, „was im Netz gesagt werden darf“. Auf das Rechtsgut der Meinungsfreiheit hingewiesen, ruderte sie eilig zurück, hat ihre Aussage einige Tage später aber verschlimmbessert. Sie wolle die Meinungsfreiheit nicht abschaffen, stellte sie voran, um anschließend den Beitrag des blauhaarigen Influencers in einen Zusammenhang mit den Hasskommentaren im Internet zu setzen.
Schlimmer geht es kaum. Muss man sich fürchten? Schließlich sind Bundespolitiker in der Lage, Gesetze zu ändern und die Meinungsfreiheit und damit auch den Zugang zum Wissen einzuschränken – etwa unter dem Vorwand, gegen rechte Hasskommmentare im Internet vorgehen zu wollen.
Mit dem Rechtsstaat gegen den Schutz, den das Recht garantiert
Wer Gesetze nicht selbst ändern kann, um seine Interessen zu schützen, dem stehen andere Mittel zur Verfügung. Bewährt hat sich die Einstweilige Verfügung, mit der unbequeme Aussagen schnell unterbunden werden können. Sie dient eigentlich dazu, „subjektive Rechte bei Dringlichkeit bereits vor der Entscheidung über eine Klage wirksam zu schützen“ (Wikipedia). Dabei ist es zunächst unwichtig, ob die angefochtene Meinungsäusserung zutreffend ist. Ein Richter kann ohne Überprüfung entscheiden. Manche Landgerichte sind dafür bekannt, Anträgen leicht zu entsprechen, diese Gerichte werden dann bevorzugt aufgesucht. Der Rechtsschutz für den Beklagten ist immer noch gegeben, denn gegen die Entscheidung kann geklagt werden.
Wenn jedoch ein größeres Ungleichgewicht hinsichtlich der Wirtschaftskraft zwischen Kläger und Beklagtem besteht, dann kann der Rechtsschutz für den Beklagten effektiv ausgehebelt sein. Wer es sich nicht leisten kann, ein Prozessrisiko von mehreren zehntausend Euro zuzüglich der Gutachterkosten vorzufinanzieren, der muss eben auf sein Recht der freien Meinungsäusserung verzichten. Geschädigt ist dann immer auch die Öffentlichkeit, wenn nämlich der Zugang zu wichtigen Informationen unterbunden ist. Beispiele?
Globuli gegen die Wissenschaft
Ob homöopathische Arzneimittel wirksam sind, darüber wird gerne gestritten. Der Streit wird in der Regel nicht mit wissenschaftlichen Argumenten geklärt. Es ist aber niemand daran gehindert, sich nach eigenem Belieben zu kurieren.
Arzneimittelhersteller müssen, wenn sie ein neues Medikament zulassen wollen, dessen Wirksamkeit durch umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegen. Bei den Homöpathika ist das nicht so, es reicht für den Wirksamkeitsnachweis ein sogenannter „Binnenkonsens“. Das heißt, es ist ausreichend, wenn die – an der Zulassung interessierten – Homöopathen die Wirksamkeit bezeugen und sich die Hersteller beispielsweise auf das Homöopathische Arzneibuch berufen. Ein wissenschaftlich durchgeführter Wirkungsnachweis ist zwar nicht verboten, aber noch nie durchgeführt worden. Trotzdem werden Homöpathika von einigen Krankenkassen bezahlt und darüber gibt es Streit. „Im besten Fall verspricht Homöopathie einen Placeboeffekt und ist ein Missbrauch von knappen Mitteln, die besser für Behandlungsmethoden verwendet werden sollten, die wirken“: Mit dieser Begründung beschloss der britische Gesundheitsdienst NHS im Jahr 2017, die Kosten für Globuli nicht länger zu übernehmen. In solchen Äusserungen sieht der deutsche Hersteller Hevert „ungerechtfertigte Diskreditierungen von Homöopathie durch Lobbygruppen“. Er „fordert unter anderem die bekannte Homöopathie-Kritikerin Natalie Grams auf, sich strafbewehrt zu verpflichten, nicht länger zu behaupten, die Wirksamkeit von Homöopathie gehe „nicht über den Placebo-Effekt hinaus“. Sollte sie diese Erklärung wie gefordert abgeben, droht ihr bei Verstoß eine Vertragsstrafe von 5100 Euro.“ (4)
Ob die den Herstellern von Homöpathika gewährte Wissenschaftslosigheit ein ausreichender Grund ist, die Veröffentlichungen von wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen zu verbieten? Man kann es ja einmal versuchen.
„Fluch und Segen des Weißen Goldes“ – Politik und Rechtsanwälte beseitigen eine kritische Dokumentation
Im Februar 2010 war im ZDF ein Dokumentarfilm zu sehen, der schon zwei Tage später aus der Mediathek genommen wurde. Das ZDF hat zugesagt, den Film nie wieder zu senden. Warum? Sein Titel war „Fluch und Segen des Weißem Goldes“ und er hat die Entsorgungspraxis der K+S AG im Werratal und dessen Folgen untersucht.
Die K+S AG musste bis heute nicht nachweisen, dass Aussagen des Films unzutreffend sind, trotzdem ist es gelungen – mit politischer Unterstützung – , den Film de facto zu verbieten und der Öffentlichkeit damit wesentliche Informationen zu entziehen. Wahrscheinlich würde man sogar den Hinweis zu bereuen haben, wo der Film in den Tiefen des Internets zu finden ist – falls er dort zu finden wäre.
Auch die WWA ist damals mit Einstweiligen Verfügungen gezwungen worden, bestimmte Darstellungen zu den Entsorgungspraktiken der K+S AG nicht mehr zu wiederholen. Mit der Androhung von weiteren Schadensersatzforderungen sollten wir sogar veranlasst werden, die einstweilige Verfügung und damit auch die Sachdarstellungen der K+S AG anzuerkennen und auf prozessuale Rechte zu verzichten (5). Das ging uns zu weit, weil wir der Ansicht waren, dass die vom LG Hamburg nicht geprüfte Darstellung irrelevant und sachlich falsch war. Wir haben diese Forderung zurückgewiesen und K+S hat darauf verzichtet, ihr Ziel mit einer Klage durchzusetzen. Dazu hätte das Unternehmen belegen müssen, dass seine Sachdarstellung zutreffend ist. Deshalb ist die Richtigkeit unserer Darstellung bis heute weder widerlegt noch angefochten. Trotzdem darf sie nicht wiederholt werden.
Europäische Richtlinien werden nicht durchgesetzt
Die EU-Kommission hatte 2012 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eröffnet, weil der Bewirtschaftungspan 2009-2015 für Werra und Weser nicht erkennen ließ, ob und mit welchen Mitteln die Ziele der EU-Wasserrahmenrichtlinie erreicht werden sollten. Auch in Bezug auf den Entwurf des aktuellen Bewirtschaftungsplans für die Jahre 2015-2021 hatte die Kommission mitgeteilt, dass der K+S AG keine Ausnahmen zugestanden werden können, „weil die erforderlichen Voraussetzungen nicht gegeben“ seien.
Das gilt auch heute noch. Allerdings war die für die Rechtsdurchsetzung in deutschen Angelegenheiten zuständige Abteilung der Generaldirektion Umwelt seit 2016 und für mehrere Jahre unbesetzt und somit handlungsunfähig. Das scheint sich inzwischen geändert zu haben, denn vor wenigen Tagen ist das Vertragsverletzungsverfahren wegen der Nicht-Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie in Werra und Weser eingestellt worden.
Weder der aktuelle Bewirtschaftungsplan noch die Verhandlungen zwischen der K+S AG und der Klägergemeinschaft der Anrainer lassen erkennen, dass die Ziele der Wasserrahmenrichtlinie fristgemäß, also bis 2027 erreicht werden sollen. Im Gegenteil: noch 2075 soll der Salzeintrag in die Werra so hoch sein, dass sich der als „schlecht“ eingestufte chemische und ökologische Zustand der Werra nicht verbessern kann.
Der deutsche Physiker und Wissenschaftsjournalist Prof. Harald Lesch hat sich in einem Interview mit dem schweizer Tagesspiegel zur Klima- und Umweltproblematik angesicht der bedrohlichen Zerstörung unseres Lebensraumes geäussert (6):
„Stattdessen werden Einzelinteressen gewisser Firmen mehr wertgeschätzt als das Gemeinwohl. Die Politik handelt betriebswirtschaftlich statt volkswirtschaftlich. (…) Ich kann Ihnen nicht sagen, wo bei solchen Entscheidungen die Vernunft gerade ist. Vielleicht auf der Toilette. (…) Angela Merkel hat es ja so formuliert: Wir brauchen eine wirtschaftsadäquate Demokratie. Wenn ich das höre, geht mir der Hut hoch. Wir brauchen genau das Umgekehrte: eine demokratieadäquate Wirtschaft.“
Angesichts der aktuellen Entwicklung könnte man hinzufügen: Wir brauchen keine industriekonforme EU-Kommission, die sich von von starken Mitgliedsstaaten und von Lobbyistenbverbänden lenken lässt. Wir brauchen eine Kommission, die das europäische Recht durchsetzt – nicht nur bei wirtschaftlich schwachen Mitgliedsstaaten.
Anmerkungen:
- Michel Serres, Erfindet Euch neu!, edition suhrkamp 2013
- Serres a.a.O., S. 35+36
- https://taz.de/Klimavorlesungen-fuer-Jugendliche/!5599228/
- https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/homoeopathie-pharmahersteller-hevert-geht-juristisch-gegen-kritiker-vor-a-1270575.html
- Schreiben der Rechtsanwälte Süchting et al. Vom 29.04.2010
- https://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/die-vernunft-ist-gerade-auf-der-toilette/story/16715101